Trauma-sensitive Yoga teacher on her hejhej-mat. Her nameis Loredana Di Filippo.

Was ist traumasensibles Yoga? Über Trauma, Yoga und das autonome Nervensystem

Biologischer und technischer Kreislauf - Circular Economy Du liest Was ist traumasensibles Yoga? Über Trauma, Yoga und das autonome Nervensystem 12 Minuten Weiter Was hejhej mit einem Biobauernhof gemeinsam hat - Kreislaufwirtschaft

Dieser Gastartikel wurde von einer speziell ausgebildeten Yogalehrerin für traumasensibles Yoga verfasst. Loredana Di Fiippo bietet (trauma)sensible 1:1 Sessions und Workshops an und arbeitet mit traumatisierten Menschen zusammen. Ihre Arbeit basiert auf dem Verständnis des autonomen Nervensystem. Das daraus resultierende Wissen ist für alle spannend, die feinfühlig sind, wirklich Veränderung in ihr Leben einladen wollen und dafür tief, auf der Ebene des autonomen Nervensystems ansetzen wollen. Danke dafür, Loredana.

In diesem Artikel möchte ich dir erklären, warum mehr Menschen von Trauma betroffen sind, als du vielleicht denkst. Außerdem erkläre ich dir, was traumasensibles Yoga ist, woran du eine traumasensible Yogastunde als Schüler:in erkennst und worauf du als Yogalehrer:in achten solltest, wenn du traumasensibel unterrichten willst.

Traumasensibles Yoga: Was ist ein Trauma?

Bevor ich darauf eingehe, welche Potentiale traumasensibler Yogaunterricht hat und wie eine traumasensible Yogastunde konkret aussieht, möchte ich kurz die Frage aufgreifen, was ein Trauma eigentlich ist. Ich reiße dieses Thema an, da der Artikel sonst zu umfangreich werden würde und fokussiere mich besonders auf die Unterscheidung zwischen Schock- und Entwicklungstrauma.

Schocktrauma

Wenn Menschen an Trauma denken, denken sie an Krieg, Naturkatastrophen, Unfälle, oder sexuelle Gewalt. Es stimmt natürlich: diese Ereignisse haben das Potential, traumatisch zu sein. Schocktrauma sind Ereignisse, die unvorhersehbar passieren und überwältigend sind. Es sind singuläre, abgeschlossene Ereignisse, die unsere Ressourcen übersteigen. Das Ereignis muss nicht lebensbedrohlich sein. Auch Operationen oder Trennungen können traumatisch sein. Klassische Symptome für ein Schocktrauma sind natürlich Dinge wie Flashbacks, Dissoziation und Intrusionen. Aber es sind auch oder sogar besonders die Symptome, die ich gleich im Kontext mit Entwicklungstrauma aufgreife, die den Menschen mit Schocktrauma Probleme bereiten. Das hat damit zu tun, dass Trauma in unsere Fähigkeit der Selbstregulation eingreift. Die Funktion der Selbstregulation erkläre ich dir in diesem Artikel auch noch.

Entwicklungstrauma

Doch hat Trauma „nur” etwas mit Krieg und Gewalt zu tun? Auch Symptome wie Schlafstörungen, Unruhe, Nervosität, Angst, Panik, Sprunghaftigkeit, starke Erschöpfung, ein mangelnder Selbstwert, Wutanfälle, Panik, Rauchen, Sexsucht, Depression oder generelle Schwierigkeiten in Verbindung zu kommen und zu bleiben können mögliche Folgen von Trauma sein (die Betonung lieg auf ,,können“).

Ein Entwicklungstrauma entsteht, wenn ein junger Organismus über längere Zeit überfordert ist. Wenn die Bindungspersonen sich nicht richtig kümmern können, dann kann das traumatisch für ein Kind sein. Es gibt zahlreiche Gründe, wieso ein Kind nicht richtig auf dieser Welt ankommen kann. Früher hat man zum Beispiel gedacht, es sei nur gut für das Kind, wenn man es einfach schreien lässt. Doch Kinder können sich bis zu einem gewissen Alter weder selbst regulieren, noch lernen sie aus solch einer Erfahrung. Für das Kind ist so eine Erfahrung traumatisch. Fehlende Fürsorge und Bindung sind der Nährboden für Entwicklungstrauma. Es geht bei diesem Trauma, das viel verbreiteter ist als Schocktrauma, nicht um das einzelne Ereignis, sondern um viele Ereignisse, welche die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.

Wenn Eltern selbst Traumatisches erlebt haben, nicht richtig für sich und das Kind da sein können, dann ist das wiederum traumatisch. Auch andere Schicksaalsschläge tragen zu einer frühkindlichen Prägung bei.

Traumasensibles Yoga: Selbstregulation

Die Fähigkeit zwischen An- und Entspannung zu wechseln bestimmt darüber, wie gut wir Leben. Neurobiologisch heißt diese Fähigkeit Selbstregulation. Selbstregulation ist eine Funktion unseres autonomen Nervensystems (ANS). Diese Funktion sorgt dafür, dass unser ANS seine Aufgabe erfüllen kann. Denn es sorgt für unser Überleben, indem es sich an die Anforderungen einer Situation anpasst. Was mehr Energie macht, als unser ANS halten kann, hat das Potential unsere Fähigkeit zur Selbstregulation aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Wenn wir auf die Welt kommen, ist unser ANS noch nicht voll ausgebildet. Regulation lernen wir, indem unsere primäre Bindungsperson uns Regulation beibringt und uns hilft diese, natürlich in uns angelegte Fähigkeit, zu entwickeln. Deswegen sollten die Systeme unserer primären Bindungspersonen idealerweise gut reguliert sein. Aber das ist oft nicht so. Daran hat niemand Schuld außer vielleicht die Komplexität dieser Welt.

Das ANS von Menschen, die Traumatisches erlebt haben ist aus dem Gleichgewicht. Du musst aber nicht traumatisiert sein, damit dein ANS aus dem Gleichgewicht gerät. Das Wissen zur Selbstregulation ist hilfreich für alle, die ein Nervensystem haben. Damit betrifft es uns alle.

Kollektive Dysregulation

Dysreguliert ist das Nervensystem zum Beispiel auch, wenn es nur noch schlagartig zwischen Parasympathikus und Sympathikus wechselt. Das ist in unserer Gesellschaft salonfähig. Manche Menschen leben ständig und oft unbewusst am Limit von dem, was sie ertragen können. Manche Menschen sind süchtig nach Stress und erleben so die Anspannung und Unsicherheit mit der sie womöglich aufgewachsen sind immer wieder. Denn das, was wir kennen, bewertet unser Nervensystem als sicher. Nach einer Anspannung findet oft kein fließender Übergang mehr in die Entspannung statt, sondern wir kollabieren in die Lethargie und müssen etwas essen, gucken, trinken, rauchen um endlich abschalten zu können.

Sicherheit auf der hejhej-mat spüren in der Seitlage

Was ist traumasensibles Yoga?

Jetzt schauen wir uns an, was traumasensibles Yoga ist, woran du eine traumasensible Yogastunde als Schüler:in erkennst und worauf du als Yogalehrer:in achten solltest, wenn du traumasensibel unterrichten willst.

Wer traumasensibel unterrichtet der sollte vor allem trauma-informiert sein. Denn traumasensibel unterrichten ist kein Stil, sondern eine Haltung. Wichtig empfinde ich auch das Wissen über das ANS. Wenn wir verstanden haben, wie das autonome Nervensystem funktioniert, dann können wir unsere Symptome besser verstehen und mit diesen arbeiten.

Kathartische Methoden, die nicht trauma-informiert durchgeführt werden haben das Potential, den Menschen zu destabilisieren. Als Schüler:in solltest du aufmerksam werden, wenn es in der Stunde um durchhalten, aushalten, und weitermachen entgegen deiner Empfindungen geht.

Das kannst du im traumasensiblem Yoga üben:

Es gibt keine konkreten Übungen gegen Trauma. Doch es gibt Dinge, mit denen du deine Ressourcen stärken kannst:

  • Du kannst Selbstregulation (wieder)erlernen.
  • Es ist möglich, dass du Freundschaft mit deinem Körper schließt.
  • Du kannst deine Grenzen erspüren und festigen.
Das bedeutet traumasensibel konkret

Eigentlich dürfen, trauma-informiert angeleitet, alle Übungen gemacht werden. Wichtig ist, dass du anerkennst, dass ein Trauma im Körper ist. Die Arbeit mit dem Körper hat die Kraft, das System zu stärken. Bewegung, welche mehr Energie freisetzt als der Mensch halten kann, sehr intensive Mobilisierung, ekstatische Methoden und lange Phasen der Stille könnten aber auch destabilisierend wirken. Das hängt natürlich immer sehr davon ab, wer übt und welche Geschichte du oder deine SchülerInnen mitbringen. Ein von Mitgefühl geprägter Unterricht, der nicht leistungsorientiert ist, ist deswegen unerlässlich.

Deine Augen dürfen offen bleiben!

„Schließe deine Augen.” Diese Aufforderung bedeutet für Menschen, die große Unsicherheit, Anspannung und belastende Erinnerung in sich tragen oft die erste Überforderung im Yogaunterricht. Trauma bedeutet, dass etwas für den Menschen zu viel war. Für ein System, welches viel Unruhe trägt ist es sehr kontraintuitiv und manchmal sogar quälend die Augen zu schließen und zum Beispiel zu meditieren. Das bedeutet nicht, dass manche Menschen ihre Augen niemals schließen können. Ich hatte schon viele KlientInnen die damit überhaupt kein Problem hatten. Als Schüler:in und/oder wenn du mit Menschen arbeitest, solltest du einfach wissen, dass das ein Thema sein kann. Du kannst deine Augen jederzeit offen lassen. Oft werden wir im Yoga angeleitet, den Blick zu fokussieren, sodass wir auch unseren Geist fokussieren können. Gerne lasse den Blick während der Yogastunde wandern, denn auch das kann Sicherheit schaffen. Orientiere dich im Raum und spüre, dass hier keine Gefahr herrscht.

Rahmenbedingungen, die Sicherheit fördern

Ich gehe davon aus, dass meine Anwesenheit für meinen Gegenüber erstmal gefährlich wirken kann. Trauma bedeutet ein Abbruch von Verbindung, um das eigene Überleben zu sichern. Wir sagen immer: „Yoga bedeutet Verbindung.” Doch das ist nicht trivial. Für viele Menschen bedeutet in Verbindung kommen Heilung und löst unglaubliche Angst aus. Deswegen bleibe ich während der Session auf meiner Matte, fasse niemanden ohne Erlaubnis an (auch wenn ich davon Überzeugt bin, dass Berührung an sich sehr heilsam sein kann) und kündige an, wenn ich zum Beispiel das Fenster öffne.

Eine traumasensible Wortwahl:

In meiner ersten Yogalehrerausbildung habe ich gelernt, dass ich Worte wie „vielleicht” nicht zu oft sagen soll. „Vielleicht fühlst du jetzt so etwas wie Sicherheit.” Das sei viel zu ungenau und in Eventualitäten sprechen mache keinen Sinn. Denn entweder will ich den Schüler:innen suggerieren sie spüren Sicherheit, oder eben nicht. Heute unterrichte ich auf der Grundlage von „vielleicht”. Meiner Erfahrung nach, ist es so: Worte, die in dir ein Gefühl von Leichtigkeit auslösen, können in anderen unangenehme bis furchtbare Erinnerungen wach rufen. Denn Worte sind kraftvoll. Du kannst natürlich nicht verhindern, dass du Menschen durch deine Wortwahl aufwühlst. Durch eine sehr einladende, nicht-suggestive Sprache kannst du aber einen Raum der Sicherheit schaffen.

„Du hast die Wahl”

Diese Botschaft sollte der Unterricht vermitteln. Wenn jemand traumatisches erlebt hat, und dabei ist für das Gehirn egal ob es sich um einen schweren Unfall handelt oder um eine problematische Kindheit, dann trägt der Mensch eigentlich immer die Überzeugung in sich, dass er oder sie keine Wahl hat.

Der Fokus auf Atem kann ein Trigger sein:

Der Atem ist dein Freund und gibt dir Informationen über dein autonomes Nervensystem. Durch den Atem hast du außerdem direkten Zugang auf dein autonomes Nervensystem. Bei Menschen mit Entwicklungs-, Bindungs- oder Schocktrauma ist das autonome Nervensystem aus dem Gleichgewicht. Das spiegelt sich in der Atmung wieder. Einer der ersten Fragen, die ich meinen Schüler:innen und Klient:innen in 1:1 Sessions stelle ist: „Wie stehst du zu deinem Atem?” Häufig stellt sich heraus, dass der Atem flach und oberflächlich ist. Ein direkter Ausdruck der Unruhe und ein Verstärker von Symptomen wie Angst, Verspannungen und Schlaflosigkeit. Über die Arbeit mit dem Atem können wir wunderbar mit dem Nervensystem arbeiten. Doch es gilt: Je langsamer, desto besser! Anspannung und damit verbundene Emotionen wollen so sanft über den Atem berührt werden, wie ein Säugling.

Savasana

Ich ermutige meine Klient:innen, sich auf die Suche nach Sicherheit zu begeben. Welche Position löst Sicherheit in dir aus? Ist es die Rückenlage? Wunderbar! Ist es die Bauch- oder Seitenlage? Folge deinem Bedürfnis. Lasse deinen Schüler:innen auch hier die Wahl. Wenn du als Schüler:in teilnimmst erinnere dich: Wichtig ist, dass du dich sicher und gehalten fühlst.

Denn am Ende geht es um die Suche nach Sicherheit. Nur wenn wir uns sicher fühlen, kann Veränderung stattfinden.

Dein persönlicher Herabschauender Hund auf der reycelten Yogamatte
So kannst du dein Nervensystem beruhigen

Was dir helfen kann, dich zu beruhigen hängt davon ab, was du mitbringst. Es ist schwer hier zu verallgemeinern. Für den einen ist es beruhigend, über leicht geöffneten Mund auszuatmen. Für den anderen ist der freie Ausdruck des Atem schambehaftet. Es gibt unzählige Dinge, die du ausprobieren kannst, wenn du viel Unruhe in dir spürst. Drei möchte ich dir jetzt vorstellen:

  • Wenn zu viel im Innen los ist – Erkunde den Raum mit deinen Sinnen: Es ist das Gegenteil von dem, was unser Körper macht, wenn er gestresst ist. Wir erfahren die Welt und bleiben mit unseren Augen dort hängen, was uns positiv oder ästhetisch erscheint. Wasser, das Meer, Sonnenuntergänge – nicht ohne Grund finden so viele Menschen gefallen daran. Dieses freie, die Welt erkunden, signalisiert unserem Körper also, dass wir in Sicherheit sind. Wenn unser Körper in Gefahr ist tatsächlich oder gefühlt (unser Körper unterscheidet in seiner Reaktion nicht), dann weicht diesem „erkunden der Welt“ ein defensives Verhalten – logisch.
  • Manchmal ist das Außen einfach zu viel. Dann kann es helfen, eine Position zu finden, in der du dich sicher fühlst. Versuche alles aus, was dir in den Sinn kommt. Vielleicht willst du liegen, und den Boden unter dir spüren. Vielleicht willst du dich ganz klein machen, einrollen und in die Seitenlage kommen. Manchmal hilft es, dich mit ein paar Kissen zu beschweren, um die Schwerkraft besser zu spüren. Oder du kommst in einen Vierfußstand. Spürst du, wie deine Hände den Boden oder deine Yogamatte berühren?
  • Eine lange Ausatmung aktiviert den Parasympathikus. Du solltest jedoch anfangen mit deinem Atem zu arbeiten, bevor du in innere Not kommst. Wenn dein Nervensystem sehr übererregt ist, kann der plötzliche Eingriff in dein Atemmuster unangenehm sein. Aber auch hier gilt: Probiere dich aus! Wenn du lernst, mit deinem Atem Freundschaft zu schließen hast du über den Atem die Möglichkeit, mit deinem Nervensystem zu arbeiten. Vielen hilft die 4:4 Atmung. Du atmest auf 4 ein, und auf 4 aus. Dabei atmest du normal, ohne den Atem übertrieben zu vertiefen.

Danke für deine Neugier!

Das war eine wirklich kurze Einführung in das unendlich weite Feld des traumasensiblen Yoga. Natürlich kann ich in einem solchen Kontext nicht alle Aspekte so aufgreifen, wie ich gerne würde. Deswegen freue ich mich sehr, wenn du deine Fragen und Anmerkungen mit mir teilst. Hier kannst du Kontakt mit mir aufnehmen.

Herzlich, Loredana

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